Hamburger Kinderverschickungen im Nationalsozialismus

In der aktuellen Debatte über das Leid, das Kinder in den 1950-er bis 1970-er Jahren in den über tausend Kinderkurheimen der Bundesrepublik erfahren haben, spielen Fragen rund um die Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten in Bezug auf den politischen Systemwechsel von 1945 eine zentrale Rolle. Neben dem Festhalten der „Gruppenmütter“ an Prinzipien einer als „sadistisch“ markierten Frühpädagogik, wie sie während der NS-Zeit prominent durch Johanna Haarer u. a. vertreten wurden, wird dabei insbesondere auf den Einfluss im Verschickungswesen tätiger Ärzt:innen abgestellt. In ihrer Funktion als Heimleiter:innen oder Heimärzt:innen hingen diese, so erste Einschätzungen, vielfach eugenischen und sozialdarwinistischen Ideologien an und behandelten die in ihrer Obhut befindlichen Kinder entsprechend – von das Intimgefühl der Kinder grob missachtenden Untersuchungspraktiken über die medizinische Anordnung drakonischer Strafen bis hin zur Vergabe von Sedativa oder die Durchführung von Medikamentenversuchen.

Wie lässt sich die NS-Zeit in Bezug auf die „Rudolf-Ballin-Stiftung“ (nachfolgend kurz „Stiftung“ genannt) und den „Verein für Kinder- und Jugenderholungsfürsorge“ (nachfolgend „Verein“ genannt), die 1987 in einer Organisation vereinigt wurden, rückblickend bewerten?

Autor: Prof. Dr. Johannes Richter, Evangelische Hochschule des Rauhen Hauses

Zwischen Krise und neuem staatlichem Engagement: Der kurze Aufschwung in der Weimarer Republik

Oskar Martini (1884–1980)
Oskar Martini (1884–1980)

Quelle: Denkmalschutzamt Hamburg, Bildarchiv, 32965

Bereits für die Entstehungszeit beider Heimträger in den 1920er Jahren war ein enger institutioneller und personeller Konnex mit der Hamburger Sozialverwaltung kennzeichnend. Die sich im Wilhelminischen Kaiserreich herausbildenden privatwohltätigen Organisations- und Finanzierungsformen wurden nach dem Ersten Weltkrieg infolge gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Drucks, aber auch aus steuerungspolitischen Gründen (vgl. Petersen 1939: 50; Lange 2001) durch ein enges Zusammenspiel zwischen Kosten- und Heimträgern abgelöst: Die Sozial- und Gesundheitsbehörde wählte die Kinder nach medizinischen Gesichtspunkten aus, während Stiftung und Verein für die Durchführung der Kuren und die hierfür notwendige personelle und bauliche Ausstattung zuständig waren. Satzungsgemäß – und entsprechend eingespielter Traditionen bürgerlicher Mit- bzw. Selbstverwaltung – lag der Vorsitz beider Träger beim Präses bzw. bei einem leitenden Beamten der Sozialbehörde. Im erweiterten Vorstand waren die Gesundheits-, Jugend-, Schul- und Finanzbehörde vertreten – ergänzt um „an der Kinderheil- und Erholungsfürsorge interessierten Persönlichkeiten“ (vgl. Staatsarchiv Hamburg 351-8, Nr. B 459). So übte Oskar Martini, Jurist und Deutsche-Volkspartei-Mitglied, ab 1920 Präsident des Wohlfahrtsamtes und später Präses der Sozialbehörde, bereits in der Weimarer Republik einen entscheidenden Einfluss auf Gestaltung und Ausbau des sozialbehördlichen Kinderkurwesens mit seinen beiden Großheimen aus: die 1921 durch die Stadt erworbene „Hamburgische Kinderheilstätte“ in Wyk auf Föhr (vormals „See-Hospiz“, später „Hamburger Kinderheim“) und das 1926 eröffnete, aus Stiftungsmitteln und Zuwendungen der Landesversicherungsanstalt finanzierte Heim „Linden-Au“ in Lüneburg.

Die pädagogische Arbeit vor Ort wurde von den beiden noch jungen, dann aber langjährigen Heimleiter*innen, dem 1892 geborenen, kriegsversehrten Gewerbeoberlehrer Otto Tamm (Hamburger Kinderheim, 1922–1957) sowie der Oberin Aenne Maier (Linden-Au, 1927–1960), verantwortet. Ersterer war zuvor im Grömitzer Kinderheim „Lensterhof“ und in der Ohlsdorfer Zwangserziehungsanstalt tätig gewesen (vgl. Diederichsen 1983; STAHH 611-20/40, Nr. 514) – ein Hinweis darauf, dass seine berufliche Sozialisation eng mit einer auf Autorität und Strenge beruhenden Anstaltserziehung verbunden war. Dass er auch die ersten vorsichtigen Reformansätze in der Hamburger Fürsorgeerziehung, die mit dem Namen C. H. Hellmann verbunden sind, miterlebt und -getragen hat, erscheint zweifelhaft (vgl. Hellmann 2014: 207 ff.). Allerdings spricht auch die vom SPD-geführten Wohlfahrtsamt abgesegnete Übertragung der verantwortungsvollen Heimleiter-Aufgabe an Tamm für sich.

Bereits wenige Jahre nach Übernahme respektive Eröffnung der genannten Großheime wurden die infrastrukturellen und konzeptuellen Gestaltungsspielräume von Heim- und Kostenträgern durch die Weltwirtschaftskrise stark eingeschränkt. Zunächst fehlten für dringend erforderliche Umbaumaßnahmen öffentliche Gelder (vgl. Diederichsen 1983: 22 und Anhang), und 1931 musste die Verschickung erholungsbedürftiger Kinder aus Kostengründen vorerst ganz eingestellt werden (vgl. Petersen 1937: 48).

Die Jahre des Nazi-Regimes – zwischen Kontinuität und Bruch

Die politische Zäsur des Jahres 1933 wirkte sich im Hamburger öffentlichen Kinderkurwesen zunächst auf dreifache Weise aus:

1. Die allem übergeordnete Verpflichtung auf die „Volksgesundheit“ und die damit verbundene Dichotomie von „Auslese“ und „Ausmerze“ hatte zur Folge, dass jüdische Kinder von Verschickungen gänzlich, „erbminderwertige“ Kinder zumindest von den vorbeugenden Erholungskuren ausgeschlossen wurden – und das bei gleichzeitig erneut massivem Anstieg der Verschickungszahlen. Im Geschäftsjahr 1937/38 wurden 8.700 Kinder über die Sozialbehörde verschickt (vgl. Petersen 1937: 51; Lohalm 2010: 287).

2. Die „Nationalistische Volkswohlfahrt“ (NSV) und weitere Parteigliederungen wie die Hitlerjugend gewannen sowohl als zuführende Instanzen als auch als Heimträger einen immer größeren Einfluss auf das Verschickungs- und Kurwesen. Die sogenannte örtliche Erholungsfürsorge wurde vollständig von der NSV besorgt (vgl. Petersen 1939: 51). Auch einzelne auswärtige Kurheime, wie das „Heim Birkenhöhe“ in Ehestorf, wurden von der Parteiorganisation übernommen und in Eigenregie verwaltet.

3. Die Einführung des Führerprinzips bewirkte – in Kombination mit der politischen „Säuberung“ des Beamtenstabes, der strukturellen Deckungsgleichheit von Landes- und Bezirksfürsorge sowie der ohnehin schon starken personellen Präsenz leitender Verwaltungsbeamt:innen in den Aufsichtsgremien –, dass politische Direktiven vom Reichsstatthalter über den „Beigeordneten der Sozialverwaltung“ und die ihm unterstellten Oberbeamt*innen durchgereicht werden konnten (vgl. ebd. S. 122). Im gleichen Zuge wurden Gründungsmitglieder jüdischer Abstammung aus dem Vorstand der „Stiftung“ ausgeschlossen.

Dr. Käthe Petersen (1903–1981)
Dr. Käthe Petersen (1903–1981)

Quelle: Archiv des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin

Als „Beigeordnetem“ war es Oskar Martini trotz starker Anfeindungen während der „Systemzeit“ gelungen, durch Sachkompetenz und grundsätzliche Bejahung der NS-Ideologie – der NSDAP trat er 1937 bei, bis zu seiner Entlassung durch die britische Militärregierung 1945 vertrat er „die nationalsozialistische Idee einer geschlossenen deutschen Volksgemeinschaft“ (Lohalm 2008a: 230) – seinen Einfluss innerhalb der Sozialbehörde zu festigen und weiter auszubauen. Entgegen dem frauenfeindlichen Mainstream protegierte er erfolgreich Käthe Petersen: Die 1903 geborene Fürsorgejuristin war, nachdem sie 1931 der liberalen Deutschen Staatspartei (DStP) beigetreten war, 1932 aus ökonomischen Gründen in den Dienst der Hamburger Sozialverwaltung getreten, wo sie zunächst in der Rechtsabteilung tätig wurde. In den Folgejahren machte sie eine steile behördliche Karriere, vertrat zunächst den Regierungsrat des 1933 von der Behörde einverleibten Jugendamtes, wurde 1937 als Regierungsassessorin mit der ständigen Vertretung der Fürsorgeabteilung betraut und schließlich – nach dem forcierten Eintritt in die NSDAP – im darauffolgenden Jahr mit Martinis Unterstützung zur Senatsrätin befördert (vgl. Rothmaler 2020: 213 f.). Damit wurde sie auch für das sozialbehördliche Verschickungswesen zuständig. Als Leiterin der Abteilung II2 „Gesundheits- und Sonderfürsorge“ des Landesfürsorgeamtes war ihr die Oberinspektorin Hanna Dunkel, die ihrerseits den Fürsorgeinnendienst leitete, direkt unterstellt.

Petersens eigentliches fürsorgepolitisches Anliegen galt – wie durch Forschungen seit den 1980er Jahren bekannt ist (vgl. Rothmaler 1987) – der sogenannten Sonderfürsorge „sittlich gefährdeter Mädchen“. Als Sammelpflegerin von zuletzt über 1.000 Mündeln setzte sie mit viel Energie die zwangsweise Sterilisation als „erbminderwertig“ bzw. „moralisch schwachsinnig“ etikettierter junger Frauen nach eugenischen Gesichtspunkten durch. Stützen konnte sie sich dabei u. a. auf die Vorrecherche der von Dunkel koordinierten Familienfürsorge (ebd.: 214 ff.).

Ob dieser vehemente Einsatz für die „NS-Erbgesundheit“ auch auf die Gestaltung der Kinderverschickung abfärbte, ist bisher nur unzureichend geklärt. Petersens in Teilen programmatisch zu lesender Beitrag „Gesundheitsfürsorgerische Maßnahmen für Kinder und Jugendliche“ von 1939, in dem sie ausführlich auf das Verschickungswesen zu sprechen kam, enthält neben klaren Bekenntnissen zu den Grundsätzen der NS-Gesundheitspolitik auch Hinweise auf Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der NSV. In dieselbe Richtung weisen auch die Befunde Lohalms, wonach sich der polykratische Charakter der NS-Diktatur auch in der Administration des Verschickungswesens zeigte: Gegen den von NSV und Parteivertreter:innen geforderten „rigorosen“ Ausschluss „erbminderwertiger“ Kinder von gesundheitsfördernden Maßnahmen wurde von der Behördenleitung geltend gemacht, dass die Verschickung auch solcher Kinder im Sinne des Infektionsschutzes oder langfristiger Kostenersparnisse geboten sein könne (vgl. Lohalm 2010: 287 f.). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Hanna Dunkel nicht nur für die Beachtung entsprechender Direktiven durch die Familienfürsorgerinnen, die die Kurmaßnahmen häufig vorschlugen, Sorge zu tragen hatte. Als ehrenamtliche Geschäftsführerin der Rudolf-Ballin-Stiftung (vgl. Dünkel 2001: 19; STAHH 351-8, Nr. B 459), die 1937 aus ideologischen Gründen in „Stiftung Hamburger Kinderheim Linden-Au“ umbenannt worden war, hatte sie auch Einfluss auf die Durchführung der Kuren in „Linden-Au“.

„Spielende Kinder im Heim“ Linden-Au – vor den Porträts von Hindenburg und Hitler.
„Spielende Kinder im Heim“ Linden-Au – vor den Porträts von Hindenburg und Hitler.

Quelle: Petersen 1939: 53.

Auch die Frage, inwiefern die Kinderkuren selbst nach ideologischen Gesichtspunkten umgestaltet wurden, lässt sich aufgrund der nur spärlich überlieferten Verwaltungsakten nicht eindeutig klären. Skeptisch stimmen allerdings interne Rückblicke, die behaupten, der Heimalltag sei politisch nahezu unbeeinträchtigt geblieben, und wenn, dann hätten die Kinder selbst oder junge Erzieher*innen nazistisches Liedgut, Emblematik und Pathos in die Einrichtungen getragen (vgl. Diederichsen 1983: 28).

Die kritische Lektüre entsprechender Darstellungen ist umso notwendiger, als das jugendbewegte Pathos des ausgehenden Kaiserreiches mit seinem Körperkult, seinem Anti-Urbanismus und seiner Verpflichtung auf die „Volksgemeinschaft“ sowohl in zeitgenössischen Handreichungen und Fachpublikationen (vgl. Behm 1926; aber auch schon Häberlin 1906) als auch in der Wyker Heimpraxis (vgl. STAHH 351–10 II, Nr. 585) deutliche Spuren hinterließ. Insbesondere aus Forschungen zur Jugendbewegung, der sich manche der in Kinderkurheimen Beschäftigten, und keinesfalls nur die jüngeren unter ihnen, verbunden fühlten, ist bekannt, dass sich entsprechende Ideologeme als ausgesprochen anschlussfähig an den NS erwiesen (vgl. exemplarisch: Niemeyer 2013; mit Bezug zum Verschickungswesen: Schmuhl 2023: 92 f.). Helmut Diederichsens Beteuerungen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des „Hamburger Kinderheims“, sein Vorgänger Otto Tamm sei ein sanfter Patriarch, aber „gewiß kein Nazi“ (S. 25) gewesen, werfen deshalb zuerst und vor allem die Frage auf, ob ihnen ein angemessenes Verständnis der hegemonialen Durchsetzung von NS-Erziehungs- und -Gesundheitsidealen zugrunde lag. Auch Oskar Martini hat übrigens in der Jubiläumsschrift Diederichsens seinen Auftritt als ausgesprochen nahbarer, verlässlicher und unbürokratischer Mentor und Förderer des Wyker Heims (ebd.: 29).

Ob bzw. inwiefern eine ideologisch durchtränkte „Pädagogik der Kälte“ und psychischen Abhärtung, wie sie Johanna Haarer propagierte, einen neuen, bestimmenden Einfluss auf die Organisation des Heimalltags und das Handeln der Betreuer*innen gewann, muss aufgrund der dürftigen Quellenlage (vorerst) offen bleiben.

Unter den Bedingungen des „totalen Krieges“ änderten sich Anlässe und Bedingungen der Kinderverschickung noch einmal grundlegend und führten frühzeitig zur gänzlichen Einstellung des Kurbetriebes: Bereits 1939 wurde „Linden-Au“ zum Reservelazarett umfunktioniert, 1940 das „Hamburger Kinderheim“ in Wyk auf Föhr durch Luftwaffenverbände und später die Marineverwaltung beschlagnahmt (vgl. Diederichsen 1983: 31). In starkem Kontrast hierzu baute die NSV ihr Evakuierungsprogramm mit dem euphemistischen Titel „erweiterte Kinderlandverschickung“ weiter aus und versuchte dasselbe propagandistisch auszuschlachten (vgl. Kock 1997).

Die Nachkriegszeit

Wie verhielt es sich nun mit den strukturellen und personellen Kontinuitäten nach 1945? Zur Beantwortung dieser Frage kann auf zwei aktuelle Publikationen zum sozialbehördlichen Verschickungswesen in den 1950er bis 1970er Jahren zurückgegriffen werden (vgl. Richter/Meyer 2021; Ballin Stiftung/Hamburger Sozialbehörde 2024).

Nach dem Krieg kam das sozialbehördliche Verschickungswesen Hamburgs erst allmählich wieder in Gang. Noch bis Ende der 1940er Jahre waren einzelne Kurheime von „Verein“ und „Stiftung“ von den Alliierten besetzt. In der Gesundheitsfürsorge für Kinder- und Jugendliche wurde notgedrungen zunächst dem Modus akuter Krisenbewältigung gefolgt, der durch zeitweilige Evakuierungen und provisorische Lösungen bestimmt war. Im gleichen Zuge wurde von den Alliierten die Heimerziehung durchmustert, die traditionellen, autoritären Erziehungspraktiken angeprangert (vgl. ebd.: 53) und das Personal kursorisch „entnazifiziert“. Fast alle Bediensteten des schon 1945 wiedereröffneten „Hamburger Kinderheims“ profitierten von der sogenannten Jugendamnestie (vgl. STAHH 611–20/40, Nr. 554). Auch Otto Tamm stufte man offenbar als unbelastet ein (Diederichsen 1983: 32).

Anfang der 1950er Jahre normalisierte sich die gesellschaftliche Lage im Zuge von Währungsreform und Marshallplan spürbar. Im Kinderkurwesen griff man jetzt die bis 1939 befolgte Praxis wieder auf. Die Verfahrensregelungen zur Auswahl, Versendung und fortlaufenden Untersuchung von Kurkindern wurden eher kosmetisch überarbeitet: Nazi-Gliederungen verschwanden aus der Liste der zur Beantragung berufenen Stellen und die durch die Nazis eingeführte Amtsbezeichnung des „Beigeordneten“ wurde ersetzt (vgl. STAHH 352-6, Nr. 1125). Fritz Lehmann-Grube, ein aus Königsberg geflohener Pädiater, der sich bereits 1947 in einer Publikation kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hatte (vgl. Lehmann 1947), wurde zum „Leitenden Arzt“ des sozialbehördlichen Verschickungswesens ernannt. Käthe Petersen, die, anders als Martini, der seinen Behördenposten auf Betreiben der Britischen Militärregierung 1945 räumen musste, ebenfalls als „unbelastet“ eingestuft worden war (vgl. Freund-Widder 2003: 292), stieg zur Leiterin des Landesfürsorgeamtes auf. Als solche saß sie bis Anfang der 1960er Jahre auch den Vorständen von „Verein“ und „Stiftung“ bis 1966 vor – in denen auch Oskar Martini als Ehrenmitglied weiter wirkte. Auch Hanna Dunkel nahm ihren Posten in Behörde und Stiftungs-Geschäftsstelle wieder ein. Im Unterschied zu Petersen, die ihre Karriere als frisch beförderte Oberregierungsrätin fortsetzen konnte, verblieb sie jedoch bis zu ihrer Pensionierung 1952 in der untergeordneten Stellung einer Oberinspektorin (vgl. Dünkel 2001: 21 ff.).

Mit siebenjähriger Verspätung, nach Freigabe von „Linden-Au“ durch die Alliierten, kehrte zuletzt auch Aenne Maier als Oberin an ihren angestammten Platz zurück. Wie es sich mit anderen Heimleiter*innen verhielt, ließ sich nicht im Detail rekonstruieren. Anhand von Passagen aus den Jahresberichten der Heimleitungen aus den 1950er und frühen 1960er Jahren lässt sich allerdings zeigen, dass zumindest in den Kleinkinderheimen für infizierte oder chronisch kranke Kinder eugenische Deutungsmuster fortgesetzte Verwendung fanden. So hieß es etwa im Bericht der Leiterin des in Ahrensburg gelegenen „Isoldenheims“ über das Geschäftsjahr 1954/55:

„Im Übrigen war das Isoldenheim wieder das ganze Jahr hindurch reichlich mit außerordentlich erziehungsschwierigen Kindern belegt! Alle Grade von psychischer u. geistiger Abwegigkeit waren vertreten; die zweite, vierte, fünfte u. sechste Kur waren unbedingt über das Maaß belastet, u. 4 Kinder mußten als für die Gemeinschaft untragbar, d.h. schädigend, während der Kur entlassen werden. Viel schwerer als die leicht debilen Kinder sind die Psychopathen zu tragen, die fast immer den schlechtesten Einfluß auf die anderen haben. […] Juni-Juli: Zu viele ausgesprochen minderwertige Kinder darunter, die sämtliche 5 Gruppen nicht zur Ruhe kommen ließen.“ (STAHH 351-10 II, Nr. 585)

Charakteristisch für die von „Verein“ und „Stiftung“ durchgeführten Kinderkuren der Nachkriegszeit war, dass diese zentral auf „Erholung“ und „Genesung“ und nicht auf „Heilung“ abstellten. Aufgrund dessen wurde – bis Mitte der 1970er Jahre – keines der Heime von Ärzt*innen geleitet. Auch die vergleichsweise große Krankenabteilung des Wyker Heims beaufsichtigte der Balneologe Ernst-Günter Schultze ab 1951 nur im Nebenberuf. Das heißt zwar nicht, dass der ärztliche Einfluss auf Indikationsstellung, zentrale Ausrichtung der Kuren, Dokumentation und Wissensgenerierung in den Hintergrund getreten wäre. Ganz im Gegenteil (vgl. Ballin Stiftung/Hamburger Sozialbehörde 2024: 195 ff.). Gleichwohl agierten sowohl Lehmann-Grube als auch die Heimärzt:innen selbst gewissermaßen vom institutionellen Rand her – und sahen sich bisweilen durch die pädagogischen Heimleitungen auch in ihrer angestammten fachlichen Autorität beschnitten (vgl. STAHH 611–20/40, Nr. 391). Möglicherweise ist es diesem Umstand zu verdanken, dass ärztlich zu verantwortende, eklatante Rechtsverstöße, wie sie für andere Kurheime belegt sind, wie z. B. Medikamentenversuche oder die massenweise Sedierung von Kindern (vgl. Wagner/Wiebel 2020), in den Einrichtungen von Verein und Stiftung nach jetzigem Wissensstand ausgeblieben sind.

Zwei abschließende Schlaglichter auf die ausgesprochen problematischen Kontinuitätslinien des ärztlichen Blicks im Übergang von NS-Regime und früher Bundesrepublik relativieren diese Annahme allerdings wieder und sollen deshalb abschließend aufgeführt werden:

  • Obwohl sich Lehmann-Grube publizistisch früh vom NS distanzierte, blieb er, was sein eigenes Fachgebiet anbelangte, dessen sozialrassistischen und eugenischen Ideologemen verhaftet. So hielt er etwa in Bezug auf die Behandlungen von Behinderung betroffener Kinder in der zweiten Auflage seines pädiatrischen Ratgebers aus dem Jahre 1953 „Das kranke Kind“ daran fest, dass es sich beim „familiären Schwachsinn“ um „eine Minusvariante der ganzen Sippe“ handele, und behauptete mit Büssow, es gäbe „ausgesprochene Dynastien von Schwachsinnigen“ (Lehmann-Grube 1953: 88). Auch der bereits im 19. Jahrhundert geprägte und von Johanna Haarer genutzte Begriff der „Affenliebe“ war für ihn keineswegs ein Unwort (ebd.: 43). Zum Umgang mit Müttern, die an ihren geistig beeinträchtigten Kindern hingen, führte er aus: „In der Stadt jedoch, zumal in geistig hochstehendem Milieu, bedeutet ein schwachsinniges Kind, gleich ob es sich um einen anlagebedingten oder erworbenen Zustand handelt, in vielfacher Hinsicht eine schwere Belastung. Nur zu oft hängt die Mutter ihre ganze Liebe an das unglückliche Geschöpf und vernachlässigt darüber dann die anderen gesunden Mitglieder der Familie. Hier ist gerade der fürsorgerisch tätige Arzt, der ja vornehmlich gesundes Leben zu betreuen hat, berufen, mit aller Möglichkeit einzugreifen. Der einzige Ausweg ist in solchen Fällen, das Kind so bald wie möglich (wörtlich zu verstehen!) in Anstaltspflege zu übergeben.“ (ebd.)

 

  • Als Heimärztin des ehemaligen NSV-Kinderheims „Birkenhöhe“ in Ehestorf beschäftigte der Verein in den 1950-er und 1960-er Jahren mit Lotte Albers eine Ärztin (vgl. STAHH 611–20/40, Nr. 519; Babel 2021, S. 101), gegen die mehrfach, zuletzt 1960, wegen Mitwirkung an Säuglingstötungen im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort staatsanwaltschaftlich ermittelt worden war (vgl. DER SPIEGEL 3/1961, Aly 2014, S. 146 u. 148). Christiane Döring, die Anfang der 1960er Jahre in das Heim „Birkenhöhe“ verschickt worden war, erinnerte sich 2020 mit unguten Gefühlen an Albers, die sie als Hausärztin für die Unterbringung vorgeschlagen hatte (vgl. Babel 2021, S. 101).

Es sollte deutlich geworden sein, dass die fortgesetzten personellen und administrativen Verflechtungen von Träger-Vorständen und behördlichen Stellen in Bezug auf die Fortwirkung von in der NS-Zeit handlungsleitenden medizinisch-eugenischen Denkmustern kein Korrektiv darstellen konnten. Schon gar nicht waren sie aber geeignet, die Entwicklung eines kritisches Sensoriums hinsichtlich der überkommenen, auf Ein- und Unterordnung der Kinder gerichteten, autoritären Praktiken des Kuralltags fördern. Die nur sehr eingeschränkt wirksame Kontrolle durch dritte Instanzen tat in dieser Konstellation ein Übriges (vgl. Ballin Stiftung/Sozialbehörde 2024: 150 ff.). Wie sich an der Skandalisierung der Zustände in „Linden-Au“ durch das Betreuungspersonal 1971 zeigte (vgl. Richter/Meyer 2021: 100 ff.), erlebten Kinder, Eltern und Beschäftigte bis weit über die Pensionierung von Dunkel, Tamm, Maier, Petersen und Lehmann-Grube hinaus die Trägerstrukturen als undurchdringliche, gegen Kritik abgeschottete Phalanx. Umso wichtiger erscheint es heute, an die strukturell und personell verankerte Missachtung kindlicher Würde zu erinnern und nachhaltige Konzepte eines umsichtigen Kinderschutzes zu etablieren.


Literatur (Auswahl):

Aly, Götz (2014): Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a. M.: Fischer-Verlag.

Babel, Andreas (2021): Kindermord im Krankenhaus. Warum Mediziner während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort behinderte Kinder töteten. 3. überarb. Aufl. Bremen: Edition Falkenberg.

Ballin Stiftung e. V./Sozialbehörde Hamburg (Hrsg.) (2024): Hamburger Kinderverschickungen 1945–1980. Erfahrungen und Hintergründe. Abschlussbericht zur Auftragsstudie der Ballin Stiftung und der Sozialbehörde Hamburg. Weinheim/Basel: Beltz/Juventa.

Behm, Karl (1926): Erholungsfürsorge. Ein Leitfaden zur Arbeit an erholungsbedürftigen Kindern. Leipzig: Verlag Quelle u. Meyer.

Der Spiegel (1961): Euthanasie. Kein Mord. DER SPIEGEL 3/1961 vom 10.01.1961. https://www.spiegel.de/politik/kein-mord-a-5568b4c7-0002-0001-0000-000043159371 (Abfrage: 05.03.2024).

Diederichsen, Helmut (1983): Heim-Chronik – 1883–1983 – Klima-Genesungskuren für Kinder und Jugendliche im Hamburger Kinderkurheim Wyk auf Föhr, Selbstverlag. In: STAHH, 611–20/40, Fürsorge- und Unterstützungseinrichtungen – Rudolf-Ballin-Stiftung, Nr. 556.

Dünkel, Barbara (2001): Frauen in der sozialen Arbeit in Hamburg zwischen 1929 und 1945 : Ausbildung, Beruf, Biographie. In: Barbara Dünkel; Verena Fesel (Hrsg.): Wohlfahrtspflege – Volkspflege – Fürsorge. Regionale und überregionale Forschungsergebnisse der sozialen Arbeit zwischen 1920 und 1970. Münster; Hamburg; Berlin; London: Lit-Verlag, S. 7–25.

Freund-Widder, Michaela (2003): Frauen unter Kontrolle. Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik. Münster: Lit-Verlag.

Häberlin, Carl (1906): Heilkunst der Zukunft. In: Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht, 6. Jg./Nr. 1, S. 203–207.

Hellmann, Jan (2014): Arbeiterbewegung und Reformpädagogik. Eine Studie zu Erfolg und Scheitern eines Reformbündnisses anhand der Biografie des Hamburger Pädagogen C. A. Hellmann (1870–1939). München: Books on demand.

Kock, Gerhard (1997): „Der Führer sorgt für unsere Kinder“ – Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg. Paderborn/München: Schöningh.

Lehmann [Grube], Fritz (1944): Der Kinderarzt. Brest-Litowsk: Osteuropäische Verlagsgemeinschaft.

Lehmann [Grube], Fritz (1946): 1939–1945. Beobachtungen und Bekenntnisse. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Lohalm, Uwe (2008): Martini, Oskar. In: Franklin Kopitzsch, Dirk Brietzke (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Band 4. Göttingen: Wallstein, S. 228–230.

Lohalm, Uwe (2010): Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg. Hamburg: Dölling und Galitz.

Niemeyer, Christian (2013): Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Tübingen: Francke.

Petersen, Käthe (1939): Gesundheitsfürsorgerische Maßnahmen für Kinder und Jugendliche. In: Die Sozialverwaltung (Hrsg.): Hamburg im Dritten Reich. Arbeiten der hamburgischen Verwaltung in Einzeldarstellungen. Hamburg: Lütcke u. Wulff, S. 43–61.

Richter, Johannes; Meyer, Sarah (2021): Erfahrungen und Hintergründe der Verschickungskinder in den Einrichtungen des Vereins für Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge der Rudolf-Ballin-Stiftung Hamburg – 1945–1980. https://www.ballin.hamburg/wp-content/uploads/2022/04/ballin-stiftung-zwischenbericht-verschickungskinder.pdf (Zugriff: 12.01.2025).

Rothmaler, Christiane (1987): Die Sozialpolitikerin Käthe Petersen zwischen Auslese und Ausmerze. In: Ebbinghaus, Angelika (Hrsg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus. Nördlingen: Greno, S. 75–90.

Rothmaler, Christiane (2020): Käthe Petersen – ein Leben als Staatsdienerin. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (Hrsg.): Facetten der Fürsorge. Akteurinnen und Akteure der Geschichte des Deutschen Vereins. Berlin: Selbstverlag, S. 208–235.

Schmuhl, Hans-Walter (2023): Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Hamburg: Dölling und Galitz Verlag.

Wagner, Sylvia/Wiebel, Burkhard (2020): „Verschickungskinder“ – Einsatz sedierender Arzneimittel und Arzneimittelprüfungen: Ein Forschungsansatz. In: Sozial. Geschichte Online. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, 28, S. 11–42. https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2020/08/wager_wiebel_verschickung_sgo_28_vorverc3b6ffentlichung-1.pdf (Zugriff: 12.01.2024).

Archivalien Staatsarchiv Hamburg:

351-10 II, Sozialbehörde II (1878–2000), Verein für Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge e. V., (ab 01.01.1987: Rudolf-Ballin-Stiftung e. V.)

352-6, Gesundheitsbehörde (1823–2008), Kinder- und Jugenderholung

611-20/40, Fürsorge- und Unterstützungseinrichtungen – Rudolf-Ballin-Stiftung

351-8; Sozialfürsorge – Stiftungsaufsicht

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